Das Wrack im Netz

So fing alles an, im Sommer 2006: ein paar niedrig aufgelöste Fotos auf einer digitalen Versteigerungsplattform, die mich aufmerksam werden ließen.

Das Modell war als „Dachbodenfund“ angezeigt. Es gab keinerlei Angaben über seine Herkunft und sein Vorbild. Erkennbar war allerdings, dass sich das Modell in einem jämmerlichen Zustand befand; die Masten und Ladebäume zerstört, das Bootsdeck quasi leergefegt. Einige Nahaufnahmen zeigten allerdings sehr präzise, offenbar aus Metall gearbeitete Details, wenngleich die, wie das ganze Schiff, unter einer dicken Dreck- und Staubschicht lagen.

Kurz gesagt: dem Angebot war nicht mit Sicherheit zu entnehmen, ob es sich bei dem Modell um ein ruiniertes Amateurmodell oder um eine fast zerstörte nautische Antiquität handelte.

Meine Hoffnung war natürlich: die Antiquität. Und hier gibt es eine besondere Kategorie: das Werftmodell. Jeder Erbauer von Schiffsmodellen kennt dessen Nimbus. Werftmodelle sind Modelle, die im Auftrag des Besitzers zeitgleich mit oder noch vor dem Original hergestellt werden. Anfangs, im 17. Jahrhundert, hatten solche Modelle die Funktion, eine Art dreidimensionaler Vertrag zwischen dem Auftraggeber (also zum Beispiel der Admiralität) und der Werft zu sein. Anhand des Modells einigte man sich über Abmessungen und Bauart. Der berühmte englische Tagebuchschreiber und Zeithistoriker Samuel Pepys hatte die wohl erste Sammlung dieser Modelle angelegt und damit das Vorbild und Muster für die späteren Schifffahrtsmuseen geschaffen; denn so sie noch nicht sämtlich zu Eventspielplätzen umgebaut sind, präsentieren diese Museen vor allem solch vorbildgetreu und handwerklich genau gearbeitete Modelle. Wo kein Original mehr existiert, sind die Werftmodelle die beste Annäherung an die Geschichte.

Im 18. Jahrhundert wurden zunehmend exakte Pläne die Grundlage der Bauverträge. Werftmodelle dienten ab jetzt vor allem der Repräsentation; sie fanden ihren Platz zum Beispiel hinter dem Schreibtisch des Reeders. Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus den Niederlassungen der Passagierschiff-Reedereien die Vorläufer unserer heutigen Reisebüros entstanden, fanden die Werftmodelle allerdings wieder eine ganz praktische Verwendung. Sie dienten als Anschauungsobjekte für die Reisenden, denen man anhand des Modells am besten zeigen konnte, womit sie bei den (manchmal viele Wochen dauernden) Überfahrten zu rechnen hatten. Obwohl diese Aufgabe heute weitestgehend von Prospekten, Videos und Internetauftritten erledigt wird, finden sich in Reisebüros immer noch Modelle von Passagierschiffen. So langlebig sind Traditionen. Die einschlägigen Modelle der Aidas und anderer Traumschiffe sind allerdings meist eher schlicht gehaltene Dekorationsobjekte aus der automatisierten Serienproduktion, während um 1900 die Reedereien einander noch mit sündhaft teuren modellbauerischen Glanzleistungen Konkurrenz machten.

Kurzum: ein Werftmodell zu besitzen oder gar zu restaurieren, möglichst eines mit einer historischen Funktion, ist der Traum aller Sammler und vieler Modellbauer.

Ich nutzte also die wenigen Tage bis zum Ende der Auktion, um ein Vorbild für das Modell zu finden; denn ohne Vorbild ließen sich Art und Wert des Modells gar nicht bestimmen. (Den Verkäufer wollte ich nicht kontaktieren, aus Kalkül. Hinweise auf den möglichen Wert eines Verkaufsobjekts können in Internetplattformen leicht dazu führen, dass der Verkäufer das Angebot zurückzieht oder dramatisch verteuert.) Meine Anhaltspunkte für die Suche nach einem Vorbild waren die vermutliche Größe und die Silhouette des Originals, aber den Fotos ließ sich ja nicht einmal entnehmen, ob das Schiff zwei Schornsteine gehabt hatte oder ob ein dritter verlorengegangen war, was mir eher der Fall zu sein schien. Diese Unklarheit machte die Suche schwierig. Nur so viel stand fest, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein Schiff mit dem Baujahr vor 1920 handelte; darauf wies die Silhouette, vor allem der separate hintere Aufbau. Hätte ich eine handhabbare Liste der Schornsteinfarben aller existierenden Reedereien zur Hand gehabt, hätte ich den Besitzer des Vorbildschiffes womöglich ausfindig machen können, aber so eine Liste fand ich nicht. Also wusste ich schließlich nicht viel mehr, als dass dieses Modell möglicherweise ein wertvolles, 80 oder mehr Jahre altes Werftmodell sein könnte, vielleicht aber auch ein neueres Amateur- oder Fantasiemodell, das eine Restaurierung kaum lohnen würde.

Nichtsdestotrotz – ich war elektrisiert. Zum ersten Mal in der Geschichte meines Agierens bei Internetversteigerungen gab ich wenige Sekunden vor Schluss der Auktion einen Betrag ein, der so hoch war, dass ich mir absolut sicher war, niemand würde ihn überbieten. (Der Betrag war namhaft vierstellig!) Glücklicherweise teilte niemand meine Obsession, und obwohl es ein paar Mitbieter gab, bekam ich das Modell für den Gegenwert eines Kinobesuchs mit der ganzen Familie (plus Popcorn etc.).

Es folgten drei Wochen eines Nerven raubenden Mailwechsels mit dem Verkäufer. Der hatte in seinem Angebot versprochen, eine Transportbox zu bauen und das Modell zu verschicken (was vermutlich wesentlich teurer gekommen wäre als das Objekt selbst), doch dann ruderte er Mail für Mail zurück. Schließlich trafen wir uns auf halber Strecke, was in diesem Fall bedeutete: im Süddeutschen, nahe der österreichischen Grenze. Außerdem bezahlte ich dem Verkäufer die Fahrtkosten. Die Übergabe fand auf dem Marktplatz des kleinen Ortes statt, in dem ich zu einer Veranstaltung eingeladen war, hatte aber (zumindest in meiner Wahrnehmung) etwas Konspiratives.

Die folgende Nacht verbrachte ich im Hotel. Neben mir auf dem Bett stand das Modell, umringt von ein paar Schachteln mit abgefallenen Kleinteilen, die mir der Besitzer mitgegeben hatte. Und ich war gleichermaßen erschüttert wie begeistert. Erschüttert, weil das Modell noch viel ruinierter war, als es die Fotos gezeigt hatten. Was abbrechen konnte, war abgebrochen; Masten und Ladebäume waren mehrfach geknickt und zersplittert, das oberste Deck des hinteren Aufbaus war zerbrochen, ebenso eine der beiden Brückennocks. Das Modell war großflächig dilettantisch übermalt worden, die meisten der Bullaugen und die filigrane Reling aus Messing auch, der Lack war auf den Flächen zu einem Craquelee-Muster zersprungen, und besonders der Unterwasserrumpf war übersät von zum Teil millimetertiefen Kratzern. Auf den Decks lag eine kompakte, wie angebacken wirkende Staubschicht; an einigen Stellen im Inneren, zum Beispiel auf den Promenaden vor den Kabinen der Ersten und Zweiten Klasse, hatte sich braune, klebrige Erde gesammelt. Alles Messing war schwarz oxidiert und hatte seine Farbe abgestoßen. Alles in allem Grund genug, erschüttert zu sein.

Allerdings sah ich jetzt erstmals einen Namen. Auf den Bug des Modells war mit Tinte (und von nicht ganz ruhiger) Hand dies geschrieben:.

Begeistert hingegen war ich von der offensichtlichen Qualität der Details. Eine der Winschen, die lose beilag, reinigte ich im Hotelzimmerbad mit Zahnbürste und Zahnpasta. Das Ergebnis war überzeugend, ja überwältigend: ein aus etlichen, teils blanken, teils brünierten Messingteilen zusammengesetztes Kleinod. Eine Uhrmacher-, oder eher noch: eine Goldschmiedearbeit!

Am nächsten Tag galt es, das so arg beschädigte Kleinod sicher im Auto zu verstauen. Das gelang; so pfleglich war mit dem Teil wohl seit Jahrzehnten niemand mehr umgegangen. Zu Hause angekommen, machte ich aus einem kleinen, vorübergehend leerstehenden Zimmer eine "Demontagewerft". Zwei Tage lang pflückte ich dort Hunderte von Einzelteilen von dem Modell herunter, um sie zu sichern. Dabei ließen sie sich alle problemlos ablösen, da sie nicht aufgeklebt, sondern mit dünnen Nägeln auf den Decks und am Rumpf befestigt waren. Ein erster großer Erfolg! Ich fotografierte jeden Handgriff, weil mir klar war, dass ich mir unmöglich merken konnte, was woher stammte. Die Teile wurden anschließend provisorisch gesäubert und in verschiedenen Kästen und Regalen gesammelt.

Hier die große Ankerwinsch:

Und hier einige der filigranen Sitzbänke sowie ein Mastfuß, Kabelrollen und weitere Winschen. Alle diese Teile wiesen die gleiche handwerkliche Qualität auf. Für die Herstellung der Winschen musste zum Beispiel eine Präzisions-Drehbank verwendet worden sein. Für mich stand damit fest: Ein Amateurmodell war das hier sicher nicht!

Wenn ich nicht gerade Beschlagteile von dem Modell zog, suchte ich weiter nach dem Vorbild. Das war jetzt allerdings nicht mehr schwierig, denn der Vorbesitzer hatte mir bei der Übergabe die entscheidenden Hinweise gegeben. Er selbst hatte das Modell erst kürzlich von einem älteren Herrn erhalten, der es über 60 Jahre verwahrt hatte. Zuvor habe es in einem Wiener Reisebüro gestanden. Der Mann, damals ein kleiner Junge, habe es schon lange bewundert. Als das Reisebüro 1944 bei einem Bombenangriff getroffen wurde, habe der Betreiber das leicht beschädigte Modell dem Jungen geschenkt. Auf einen Bollerwagen gepackt, habe der Vater des Jungen es zu einem Schrebergarten gefahren, wo es den Krieg überstand. Später bekam ich noch Scans von ein paar Fotos, die wohl unmittelbar nach der „Überführung“ des Modells gemacht worden waren. Sie zeigen u.a., dass damals die Aufbauten und die Masten noch völlig unzerstört waren.

Leider, so der Verkäufer, habe der Vorbesitzer in den folgenden Jahrzehnten nie die Möglichkeit gehabt, das Modell aufzustellen oder auch nur sachgerecht unterzubringen, und so sei es schließlich auf einem Dachboden gelandet, eingeschlagen in eine Plane, also unkenntlich, was dazu geführt habe, dass bei Bauarbeiten Dachziegel oder dergleichen darauf abgelegt worden seien. Das Modell, so sagte der Verkäufer weiter, müsse etwas Besonderes sein, das habe auch er gesehen, obwohl er kein Fachmann sei, und deshalb habe er sich auch an ein österreichisches Museum gewandt. Dort sei man aber nicht interessiert gewesen. (Ich wüsste heute gerne, welches Museum das war, leider ist mein Kontakt zum Verkäufer inzwischen abgerissen und ich weiß nicht mehr, wie ich ihn erreichen kann.)

Mit all diesen Informationen war es ein Leichtes, das Vorbild für das Modell zu ermitteln. Wenn es bis 1944 in einem Wiener Reisebüro gestanden und tatsächlich Marco Polo geheißen hatte, dann konnte es sich bei seinem Vorbild nur um ein Schiff handeln: die Kaiser Franz Joseph I., gebaut 1912 in Triest für die Reederei Austro-Americana, etwa 145 Meter lang und mit 12.567 Bruttoregistertonnen das größte jemals für die österreichische Handelsmarine gebaute Schiff, Flaggschiff der k.u.k Handelsflotte. (Zur Abkürzung nenne ich sie ab jetzt: KFJ). 1914 war die KFJ wegen des Kriegsausbruchs in ihrem Heimathafen Triest außer Dienst gestellt worden und nach dem Krieg ebenso wie Stadt und Region an Italien gefallen. Die Austro-Americana wurde zur Reederei Cosulich, die KFJ zur Presidente Wilson. Jetzt für einige Zeit das größte italienische Handelsschiff, wurde sie wieder auf ihren Vorkriegsrouten eingesetzt, bevorzugt nach Amerika. Später umbenannt in Gange (Ganges) und schließend in Marco Polo, fuhr sie zuletzt für die Reederei Adriatischer Lloyd; seit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs diente sie als Truppentransporter für die Verbindung zum afrikanischen Kriegsschauplatz. Am 12. Mai 1944 wurde sie von abrückenden deutschen Truppen im Hafen von La Spezia als Sperrschiff versenkt. (Ein rührender Umstand, dass die Mitarbeiter des Wiener Reisebüros das Modell offenbar bis zu diesem Zeitpunkt verwahrten. Glaubten sie an sein Nachkriegsleben? Erst als Vorbild und Modell zeitgleich beschädigt wurden, trennten sie sich davon.) Das Wrack der KFJ wurde nach dem Krieg gehoben und an Ort und Stelle abgewrackt. Eine Wikipedia-Seite zu dem Schiff informiert über weitere Details; und vor einigen Jahren ist ein reich bebildertes Buch über die KFJ in italienischer Sprache erschienen: Paolo Valenti: Kaiser Franz Josef I. Il più grande piroscafo passeggeri della marina austroungarica. Verlag Luglio (Triest) 2011.

Und so sah die KFJ bei ihrer Indienststellung 1912 aus, im Jahr der Titanic-Katastrophe:

 

Nach dem ersten Weltkrieg wurden ihre Schornsteine etwas verkürzt und die unteren Promenadengänge geschlossen.

 

Und dies ist sie als Marco Polo in den 1930er Jahren, jetzt weiß lackiert und mit schwarzen Rettungsbooten. Nach dem Umbau auf Verbrennungsmotoren sind die Schornsteine noch kürzer und anders geformt:

Ich bin mir heute sicher, dass das Modell parallel zu seinem Vorbild von den Angestellten des Reisebüros (womöglich mehrfach) umlackiert und umgebaut wurde, wobei diese "Anpassungsmaßnahmen" keineswegs so sorgfältig ausgeführt wurden wie das Modell selbst. Im Gegenteil: Die Überlackierung ist eine glatte Stümperei, und der überhaupt nicht vorbildgetreue Umbau der Schornsteine hat auf dem Bootsdeck schwere Schäden angerichtet. Im Folgenden noch ein paar Detailfotos vom Zustand, in dem ich das Modell erwarb. So gut "altern" kann nur die Zeit selbst.

Ich denke, man wird verstehen, wie zerrissen ich während der ersten Sicherungsmaßnahmen war: Einerseits wurde immer deutlicher, welch ein Meisterstück des Modellbaus ich da vor mir hatte; andererseits wurde der Grad der Zerstörung, des Verfalls und der Verunstaltung mit jedem Handgriff sichtbarer. Die Frage war: Würde überhaupt irgendwer es schaffen, dieses Modell zu restaurieren? Und könnte dieser Jemand ausgerechnet ich sein? Immerhin sollte, so der Vorbesitzer, ein Museum bereits abgewinkt haben. Ich wusste damals, dass mir einige Fähigkeiten fehlten, die jetzt dringend gebraucht wurden: Noch nie hatte ich z.B. ein so großes Modell lackiert; zudem hatte ich keine Ahnung, wie ich die fehlenden Beschlagteile ersetzen sollte. Außerdem besaß ich keine Pläne des Originals oder Detailfotos, an denen ich mich hätte orientieren können, etwa bei der Restaurierung der völlig zerstörten Masten und Ladebäume. (Das Buch von Paolo Valenti sollte erst 5 Jahre später erscheinen.)

Trotzdem entschloss ich mich, die Demontage fortzusetzen. Erst später ist mir zu Bewusstsein gekommen, dass ich damit auch eine Möglichkeit verbaute, nämlich die, das Modell in seinem „natürlichen“ Verfallszustand zu konservieren. Immerhin hatten sich über 90 Jahre seiner Geschichte (und der seines Vorbildes) in dem Modell niedergeschlagen. Später bin ich mehrfach daran erinnert worden, etwa als ich beim Abschmirgeln des Rumpfes nacheinander alle Namen des Schiffes freilegte:

Sicher wäre es nicht ohne Reiz gewesen, ein solches Modellwrack als aussagekräftiges Denkmal seines Vorbildes zu präsentieren. Doch der Wunsch, das Modell wie den berühmten Phönix wiedererstehen zu lassen, war zu groß, um den Gedanken ausführlicher zu denken. Außerdem hätte ich damit rechnen müssen, in meiner Familie wenig Akzeptanz für den Plan zu finden, ein anderthalb Meter langes, verkratztes und verdrecktes Modellwrack im Wohnzimmer auszustellen.

So habe ich während der Demontage in der Hauptsache versucht, mir ein Bild davon zu machen, was alles zu tun war, um das Modell in seinen Ursprungszustand zurückzuversetzen, sprich: aus der ruinierten Marco Polo wieder die werftneue Kaiser Franz Joseph I. zu machen. Das heißt, ich habe nicht nur versucht, die Decks und Aufbauten, soweit es irgendwie möglich war, voneinander zu trennen; darüber hinaus habe ich weitere Reinigungs- und Schleifversuche angestellt um zu ermessen, welcher Arbeiten es noch bedurfte. Schon bald führte das zu ganz erstaunlichen Ergebnissen.

Ein altes Modell zu zerlegen ist eine Art archäologischer Arbeit. Ich war anfangs in Hochstimmung geraten, weil sich die Beschläge so gut ablösen ließen, da sie nicht geklebt, sondern gestiftet waren. Aber wie sollte ich die Aufbauten und die Decks, die einmal separate Teile gewesen sein mussten, wieder voneinander trennen? Wären sie miteinander verklebt, könnte ich sie womöglich nicht ohne schwere Beschädigung abheben. Nach einer ziemlich langen Suche fiel mir schließlich auf, dass das Dach des Kartenraums auf der Brücke genau wie die Beschlagteile mit Stiften auf dem Unterbau befestigt war. Vorsichtig abgehebelt, gab es zwei große Holzschrauben frei, die von dieser Stelle durch mehrere Decks hinunter in den Rumpf reichten. Ich löste sie, worauf sich das Kartenhaus abnehmen ließ.

Damit war der Anfang gemacht, und ab jetzt ging es schnell. Es fanden sich auf dem Bootsdeck weitere Schrauben, z.B. unter der Funkbude und einem Oberlicht, und nach deren Lösen ließ sich das Bootsdecks problemlos abnehmen. Darunter kamen dann neue Verbindungsschrauben zum Vorschein. Auch die Decks und Aufbauten waren also alle nicht miteinander verklebt.

Dennoch musste ich beim Trennen der Decks sehr vorsichtig sein, da sie im Bereich der Promenaden durch filigrane Stützen aus Messing miteinander verbunden und durch den übersatten Farbauftrag leider auch miteinander verklebt waren:

Die Freilegung bislang unzugänglicher Bereiche lieferte weitere Beispiele dafür, wie sehr Schmutz und Feuchtigkeit dem Modell zugesetzt hatten:

Gelegentlich glänzte mir unter den abgehebelten Teilen allerdings auch das unbeschädigte Material entgegen und vermittelte eine Ahnung davon, welche Pracht das Modell einst ausgestrahlt haben musste:

Schließlich erwiesen sich auch die untersten Decks (Back- und Achterdeck) als nicht mit dem Rumpf verleimt. Die Modellbauer hatten sie aus Nussbaumplatten hergestellt, die zu den Kanten hin dünner geschliffen waren, um eine Balkenbucht (die Krümmung des Decks zum Abfluss des Wassers) zu simulieren:

Im Modellbau-Stil der Zeit waren die Plankenverläufe (also die Kalfaterung) mit Tusche auf das Holz gemalt. Doch die Feuchtigkeit hatte den schützenden Lack so sehr angegriffen, dass mir schon nach ersten Reinigungsversuchen klar wurde: Ich würde auch alle Decks gründlich abschleifen und neu  gestalten müssen.

Und so sah der Rumpf nach Wegnahme aller Beschläge, Decks, Aufbauten etc. aus.

Gut zu erkennen sind auf dem folgenden Foto die besagte Balkenbucht und der Decksprung (Buch und Heck steigen leicht an):

Ein erfahrener Modellbauer versicherte mir, der Rumpf sei aus Schichten von Lindenholz gebaut. Tatsächlich roch es aus seinem Inneren eine ganze Zeit lang ausgesprochen frisch. Glücklicherweise hatten sich die Holzschichten an keiner Stelle voneinander gelöst, wie das häufig bei Rümpfen passiert, die auf diese Art und Weise gebaut sind. Hier ein Beispiel aus dem Schifffahrtsmuseum in Genua. Das gigantische (1:50!) Modell des damals größten italienischen Passagierschiffes Duilio (1916) zeigt über die gesamte Bordwand an Backbord einen Riss. Hier haben sich die Schichten gelöst. Das ist sicher ein Horror für einen Restaurator, da es kaum möglich sein wird, die Schichten wieder sauber miteinander zu verleimen.

Schleifversuche an den Bordwänden hatten mittlerweile die ursprüngliche schwarze Farbe zum Vorschein gebracht, freilich auch eine Vielzahl von schweren Kratzern und Stoßspuren, die durch eine einfache Neulackierung sicher nicht zum Verschwinden gebracht würden.

Die folgenden Fotos zeigen das Modell, weitgehend demontiert und teilweise abgeschliffen, anschließend provisorisch wieder zusammengesetzt. Das Ausmaß der Restaurierungsarbeit ist, so denke ich, auch für einen Laien zu erkennen.

Ich erinnere mich: Das war, vielleicht zwei Wochen, nachdem das Modell ins Haus gekommen war, ein Punkt, an dem mir der Mut ganz plötzlich sank. Die Demontage war zwar nahezu perfekt gelungen, nichts war weiter beschädigt worden, zweifellos ein wichtiger Schritt zur Restaurierung. Aber jetzt sah ich deutlich vor mir, dass ich praktisch jeden Quadratmillimeter Oberfläche reinigen, ausbessern und lackieren musste. Wollte ich versuchen, das Modell in seinen Ursprungszustand zurückzuversetzen, sprich: als die KFJ des Jahres 1912 wiederherzustellen, mussten zudem die Schornsteine wieder verlängert werden. Doch das waren immerhin noch Arbeiten, die ich mir (nach ein bisschen Übung) zutraute. Rätselhaft war mir hingegen, wie ich die fehlenden Teile ersetzen - und: wie ich überhaupt in Erfahrung bringen sollte, welche Teile fehlten! Hätte ich damals nicht schon die Internetforen gekannt, wäre ich womöglich nicht so tollkühn gewesen, mit der Restaurierung auf eigene Faust fortzufahren. Im Netz, so dachte ich, wird man mir helfen können.

Ach ja. Und dann gab es da noch diesen postkartengroßen Zettel, den ich nach dem Abheben des gesamten Aufbaus auf dem Grund des Rumpfes fand:

Wenn ich richtig lese, steht da:

Built + Fitted by MKenzie + Co. Oct. 31st 1912
Robert Clouston
John M. Black Woodworker
Jemima Young Frenchpolisher
William R.L. Arneson Rigger

Ich habe mir mittlerweile erklären lassen, dass ein „Frenchpolisher“ für alle Farbarbeiten und ein „Rigger“ für alle Ausstattungsarbeiten, also auch für das Herstellen der Beschlagteile, zuständig war. Leider ist es mir bislang nicht gelungen, die Firma MKenzie nachzuweisen. Mehrmals habe ich allerdings gehört, dass es in Schottland Werkstätten gab, die darauf spezialisiert waren, auch für Werften und Reederei außerhalb Großbritanniens Modelle anzufertigen. Ich bin mir sicher, darüber irgendwann weiteren Aufschluss zu erhalten, vielleicht von Experten des National Maritime Museum in London. Für mich war dieser Zettel übrigens der letzte Beweis dafür, dass es sich bei diesem Modell um ein Werftmodell handelte. Denn wer sonst als der Besitzer des Originals wäre imstande gewesen, noch im Jahr seiner Indienststellung ein dermaßen aufwändiges Modell davon in Auftrag geben zu können?

Ach, und dies noch: Geht man davon aus, dass die vier Unterzeichneten damals erwachsene Leute waren, dann sind ihre Enkel heute alte Männer und Frauen.

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